Obdachlosigkeit in USA
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Obdachlosigkeit in USA

Vom Arbeitsplatz auf der Straße?

Es kursiert ein Klischee über die USA, welches in vielen deutschen Köpfen fest verankert ist: Wer in den USA seinen Job verliert, landet unweigerlich auf der Straße. Inwiefern ist das jedoch ein Gerücht und was stimmt daran?

Man sollte sich darüber im Klaren sein, dass, nur weil man in den USA seinen Job verliert und vielleicht sogar kein Geld mehr hat, man nicht automatisch obdachlos wird oder seine Krankenversicherung verliert. Auch wenn man keinen Cent auf dem Konto hättest und keinen materiellen Besitz besitzt, würde das einen nicht automatisch auf die Straße zwingen. Das hat mehrere Gründe, die vielen aufgrund von weitverbreiteten Vorurteilen gegenüber den USA nicht bekannt sind.
Ich spreche im Grunde von normalen Armutsverhältnissen — und nicht von Menschen, die nicht von Drogen, Alkohol oder Glücksspielen abhängig sind und die keine schweren seelischen oder psychischen Erkrankungen haben oder dramatische Ereignisse erleben oder erlebt haben, die nicht zum täglichen Leben gehören. Selbstverständlich gibt es tragische Schicksale, aber diese sind nicht die Regel.
Ich habe mich bereits intensiv mit dem Thema Obdachlosigkeit in den USA beschäftigt, insbesondere in diesem Video:

In diesem Kontext ist es essentiell zu verstehen, dass der amerikanische Staat diverse Sozialleistungen anbietet. Die bekannteste davon ist die „Section 8“, bei der der Staat Menschen, die es benötigen, eine Wohnung kostenlos zur Verfügung stellt, d. h. jeder Amerikaner, der sich keine Unterkunft leisten kann, hat ein Anrecht darauf. Weiterhin gibt es seit der Gesundheitsreform in den gesamten USA eine staatliche Krankenversicherung für diejenigen, die sich keine private Versicherung leisten können. Das erinnert stark an das deutsche System, in dem der Staat ebenfalls solche Unterstützungen für Bedürftige anbietet.

Woher stammt dieses Gerücht?

Die große Frage, die sich nun stellt: Woher kommt das Gerücht, dass man in den USA sofort auf der Straße landet, wenn man seinen Job verliert?
Es hält sich ein Gerüst aus alten Zeiten. Ein markantes Beispiel hierfür ist die Situation vor der Gesundheitsreform. Damals waren viele Amerikaner nicht versichert, und staatliche Hilfen in der jetzigen Form existierten nicht. Dennoch hat sich in den letzten 30 bis 50 Jahren viel verändert. Trotzdem wird dieses überholte Bild der USA oft noch weitergetragen.
Ein interessanter Gedanke, der hier aufkommen könnte, ist folgender:
Ist es wirklich unausweichlich das Schicksal eines Menschen in den USA, der weder von Süchten betroffen ist noch seelische Erkrankungen hat … sofort seine Bleibe verliert, sobald er arbeitslos wird?
Irgendwie sollte man davon ausgehen, dass man als Mensch mit gesundem Menschenverstand meistens eine Lösung findet. Das kann bedeuten, dass man umzieht, die Ausgaben kürzt, auf Ersparnisse zurückgreift oder seine wertvollen Gegenstände verkauft, wie zum Beispiel Auto, Haus und andere Besitztümer. Selbstverständlich kann der Verlust eines Arbeitsplatzes die Lebensqualität drastisch reduzieren. Doch bis man wirklich gar nichts mehr hat, ist es in der Regel ein langer Weg. Es bräuchte eine erhebliche Menge an unglücklichen Kettenreaktionen, damit jemand wirklich am Boden zerstört ist.
Ich kenne viele Menschen in Amerika, die eher am Existenzminimum leben und trotzdem nicht obdachlos sind — selbst, wenn sie nicht immer die besten Entscheidungen treffen. Ein Bekannter von mir wurde kürzlich arbeitslos und konnte seine Miete nicht mehr bezahlen. Er zog nach Arizona, wo die Mieten deutlich günstiger sind und kehrte nach einem Jahr zurück, als er wieder Arbeit in Kalifornien gefunden hatte.

Alternative Überlebensstrategien in Amerika

Wenn es wirklich hart auf hart kommt, könnte man theoretisch nach Mexiko kurzfristig umziehen, welches direkt an der Grenze zu Amerika ist. Ein Beispiel hierfür ist Rosarito, ein Ferienort, in dem man für 250 Dollar im Monat eine Wohnung mieten kann. Mit nur $5 am Tag könnte man sich dort ernähren. Es ist nur ein Beispiel von vielen, aber es zeigt, dass es Möglichkeiten gibt, bevor man auf die Idee käme, auf dem Bürgersteig zu übernachten.

Komplexität der Obdachlosigkeit

Viele Menschen, die obdachlos sind, sind Opfer von gesellschaftlichen Strukturen und Erwartungen einer Leistungsgesellschaft. Diese Menschen sind oft nicht selbst schuld an ihrem Schicksal. Sie sind das Ergebnis komplexer Probleme einer Gesellschaft, die auch ihre Opfer fordert.
Das Klischee „Job verloren, auf der Straße gelandet“ ist stark vereinfacht und spiegelt allerdings nicht die Realität hier in den USA wider. Wenn ich solche Aussagen höre, wird mir klar, dass sich viele Menschen nicht ausreichend mit dem Thema auseinandergesetzt haben.
Man sollte zum Beispiel nicht vergessen, dass es in den USA Sozialhilfe gibt. Hinzu kommt die bereits erwähnte staatliche Krankenversicherung, die vielen Menschen in schwierigen Zeiten zur Seite steht:

Was passiert nach einer Entlassung in den USA?

Eine Entlassung in den USA kann durchaus abrupt ablaufen. Oft hat man nur 15 Minuten, um das Gebäude zu verlassen. Das Hire-and-Fire-Prinzip ist hier fest verankert, sodass im Arbeitsvertrag häufig die Klausel „Termination at will“ zu finden ist. Das bedeutet, dass das Unternehmen nach eigenem Ermessen entscheiden kann, dich zu entlassen.
Nach einer Kündigung wendet man sich an das EDD, das amerikanische Äquivalent zum deutschen Arbeitsamt, um Arbeitslosengeld zu beantragen. In Kalifornien bewegt sich diese Unterstützung zwischen 1000 und 1500 Dollar und mehr pro Woche, abhängig vom vorherigen Verdienst. Im Schnitt entspricht das etwa 60% des Einkommens. Ein Teil des Lohns fließt bei jeder Abrechnung an das EDD, was die Arbeitslosenversicherung unterstützt – ein System, das auch in Deutschland bekannt ist.
Nach einer Entlassung ist der Arbeitgeber verpflichtet, die Krankenversicherung des Angestellten bis zum Ende des laufenden Monats fortzuführen. Danach greift in den USA die Regelung der COBRA (Continuation of Health Coverage), sodass man und die eigene Familie weiterhin krankenversichert bleiben.
ch eine Krankenversicherung nicht leisten können oder in Jobs mit niedrigem Einkommen ohne arbeitgeberfinanzierte Versicherung arbeiten, existiert Medicare. Dabei handelt es sich um die staatliche Krankenversicherung der USA. Die Verwaltung dieser Leistungen obliegt der Social Security Administration (SSA).
Eine Besonderheit des EDD ist dessen arbeitgeberfreundliche Ausrichtung. Das Amt nimmt nach einer Kündigung Kontakt zum Arbeitgeber auf, um den Kündigungsgrund zu erfragen. Dabei kann ein Arbeitgeber einfach behaupten, der Arbeitnehmer habe gegen den Vertrag verstoßen. Das EDD neigt dazu, den Aussagen des Arbeitgebers Glauben zu schenken, ohne weitere Beweise einzufordern. Bei einer solchen Behauptung stehen die Chancen schlecht, Arbeitslosenunterstützung zu erhalten. Eine rechtliche Auseinandersetzung ist in solchen Fällen zwar möglich, aber oft mit hohen Kosten verbunden, wodurch viele Betroffene den Rechtsweg scheuen.
Manchmal kann die Erfahrung mit dem EDD ernüchternd sein, insbesondere wenn man ohne Beweise von der Unterstützung ausgeschlossen wird. Es kann vorkommen, dass man Anschuldigungen ausgesetzt ist, gegen den eigenen Arbeitsvertrag verstoßen zu haben, ohne eine faire Chance zu bekommen, sich zu verteidigen. Es sind genau diese Schattenseiten des Systems, die man ebenfalls in Betracht ziehen sollte.

Vom Normalo auf der Straße: Ist das in den USA wirklich möglich?

Wird man arbeitslos, zeigt sich die Bank oft wenig entgegenkommend – Kredite sind dann meistens ausgeschlossen. Theoretisch gesehen, ohne jegliche Ersparnisse und mit einer ausstehenden Monatsmiete, befindet man sich schon in einer prekären Lage. Wer in Kalifornien lebt und nicht gerade das beste Verhältnis zum Vermieter pflegt, könnte sich sogar in der unangenehmen Situation wiederfinden, mit Hilfe der Polizei aus der eigenen Wohnung geworfen zu werden – und das ganz ohne richterlichen Beschluss.
Stellt man sich eine Situation vor, in der man keine Freunde hat – vielleicht weil man nie welche gefunden hat – und zudem an einem Wochenende aus der Wohnung geworfen wird und das Sozialamt am Sonntag noch geschlossen hat, dann sieht es düster aus. Dieses Szenario wird umso düsterer, wenn auch noch das Auto den Dienst verweigert und weder Familie noch Freunde einem finanziell über gängige Apps wie Venmo, Zelle oder Paypal aus der Patsche helfen können. Ein verlorenes Portemonnaie bedeutet in dieser Lage nicht nur den Verlust von Bargeld, sondern schließt auch die Option einer kurzzeitigen Verschuldung durch die Kreditkarte aus.
Ein Rentenkonto, in das man nie eingezahlt hat, hilft in dieser Notlage auch nicht weiter. In den USA kann man zwar auf diese Ersparnisse vorzeitig zugreifen, allerdings wäre es unklug, da man so letztendlich an seiner Altersvorsorge nagt.
Auf den ersten Blick mag diese Situation absurd klingen. Aber es zeigt: Prinzipiell ist alles möglich. Allerdings, basierend auf den Erfahrungen aus meinem Freundeskreis, welcher nicht nur Akademiker, sondern auch Handwerker und Dienstleister umfasst, habe ich von solch einem Schicksalsschlag noch nicht mitbekommen. Entlassungen hingegen sind in den USA an der Tagesordnung. Fast jeder hat diese Erfahrung schon einmal gemacht.

Die schnelllebige Arbeitswelt in den USA

Nach einer Kündigung ergreifen viele umgehend die Initiative und nehmen oft Jobs an, die ihnen nicht liegen, nur um Geld zu verdienen und die Rechnungen zu begleichen. USA ist nicht nur eine Hire-and-Fire-Gesellschaft, sondern hat auch eine Fired-and-Hired-Mentaltät. Man sich in den USA morgens bewerben und wird oft schon am Nachmittag schon mit der Arbeit beginnen – und das sogar ohne ein persönliches Vorstellungsgespräch. Besonders im Niedriglohnbereich sind Anstellungen fast augenblicklich. Während man so kurzfristig Geld verdient, kann man parallel nach besseren Jobmöglichkeiten suchen.
Die meisten Vorstellungsgespräche finden online statt. So kann man problemlos in der Mittagspause ein Interview aus dem eigenen Auto mit dem Smartphone durchführen. Dies ist auch für Interviewer kein Problem.
In meinen vielen Interviews mit Bewerbern durch meine Firma habe ich festgestellt, dass hier in den USA niemand zögert, offen über eine Entlassung zu sprechen. Im Gegensatz zu Deutschland, wo man gelernt hat, solche Informationen zurückzuhalten, hinterlässt dies in den USA keineswegs einen schlechten Eindruck. Jeder ist in den USA schon mal entlassen worden, auch der Interviewer selbst wird in den meisten Fällen das schon mehr als einmal erlebt haben.

Meine Erfahrungen in meiner Firma

Es gibt Momente in Vorstellungsgesprächen, die mich in meinem Job in Amerika zum Nachdenken anregen. Wenn mir ein Bewerber aus den USA erzählt, dass er seinen letzten Job auf der Suche nach neuen Herausforderungen gekündigt hat, stellen sich aus dem amerikanischen Mindset heraus sofort Fragen: Warum hat diese Person erst gekündigt und bewirbt sich nicht während eines aktiven Arbeitsverhältnisses? Gab es vielleicht keine Lust mehr zu arbeiten? Handelt es sich um jemanden, der schnell unzufrieden wird? Solche Gedanken schießen einem unweigerlich durch den Kopf.
Allerdings hört man oft von Bewerbern: „I got laid off“ oder „I got fired“. In solchen Fällen versteht man sofort, warum jemand einen neuen Job sucht, und es bedarf keiner weiteren Erklärungen.
Etwas, das ich Bewerbern inzwischen nicht mehr frage, ist der Grund ihrer Entlassung. Es gilt in den USA als unschicklich und unfair, danach zu fragen. Der Grund ist wie folgt: Meine Erfahrung zeigt, dass man in den USA einige sehr problematische Arbeitgeber antreffen kann. Vom Betrug bis hin zu extremen Arbeitskulturen, die von Gier und Emotionen getrieben werden, habe ich schon vieles erlebt. Das, was einige Arbeitgeber ihren Mitarbeitern hier antun, könnte direkt aus einem Horrorfilm stammen. Wenn jemand entlassen wurde, bedeutet das nicht zwangsläufig, dass er etwas falsch gemacht hat. Als Interviewer möchte man oft gar nicht wissen, was vorgefallen ist, denn es könnte für den Bewerber sogar eine Erlösung gewesen sein. Ebenso wäre es unprofessionell, wenn der Bewerber negative Geschichten über seinen ehemaligen Arbeitgeber erzählt. Daher verzichte ich inzwischen auf diese Frage.

Obdachlos aus eigener Schuld?

Manchmal täuscht der erste Eindruck. Dieses Prinzip lässt sich nicht nur auf die Arbeitswelt, sondern auch auf das Leben im Allgemeinen übertragen. Bei obdachlosen Menschen beispielsweise kann man nicht sofort urteilen oder annehmen, dass sie selbst schuld an ihrer Situation sind.
Wer aber nimmt sich die Zeit, wirklich nachzuforschen und die ganze Geschichte hinter einer Person zu erfahren? Ich habe oft darüber nachgedacht, wie es wäre, als Journalist tief in das Leben eines Menschen einzutauchen und seine Geschichte von der Kindheit an zu ergründen. Das Bedauerliche ist, dass viele Menschen sich nicht für die tiefgreifenden Geschichten hinter den Fassaden interessieren. Zu oft beschränkt sich unser Blick lediglich auf das sichtbare Äußere, wie ein Zelt und seine Bewohner, ohne das wahre Schicksal dahinter zu erkennen. Dieses Phänomen beschränkt sich nicht nur auf die USA; es ist ein globales Problem. Die Mehrheit von uns sucht Unterhaltung und scheut sich vor langen, komplexen Erzählungen. Zudem neigen wir dazu, Schwarz-Weiß-Denken anzunehmen: Einige machen Obdachlose für ihre Situation verantwortlich, während andere das System beschuldigen. Es erfordert ein nuanciertes Verständnis, und dabei gleichzeitig die Komplexität des Themas zu akzeptieren.

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