Denis Moschitto, William Sen

von Denis Moschitto und William Sen
Buchautoren von Hackerland & Hackertales

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Also, ich hing mit den Jungs vor dem Supermarkt in der Innenstadt herum. Wir standen wie immen direkt neben der Telefonzelle. Wir trafen uns dort, um Disketten zu tauschen oder einfach nur, um zu quatschen.

Ich weiß nicht mehr genau, was ich an diesem Tag dort gemacht habe, als Holly mir auf einmal mit seinen Moon Boots entgegenstapfte. Die Dinger waren schon damals total out. In einer Hand hielt er eine Dose Cherry Coke. Er trank ständig diesen Mist, und seine Hände klebten immer von dem Zeug.

„Jeezus, bist du gewachsen“, sagte ich zu ihm und schüttelte den Lappen Hand, den er mir entgegenstreckte. Ich habe Holly immer Jeezus genannt, weil er damals noch diese fettigen, langen Haare hatte. Die Typen hinter mir machten sich die ganze Zeit über Hollys Schuhwerk lustig und lachten immer wieder kurz auf, Holly ignorierte das und nickte entschuldigend in meine Richtung. Der Idiot hatte mir schon vor Urzeiten eine Kiste mit Leermedien versprochen. Unnachgiebig wie ich nun mal bin, lag ich ihm damit andauernd in den Ohren und war jedes Mal sauer, wenn er sich wieder eine Ausrede einfallen ließ.

Holly arbeitete in einem Computerladen und steckte sich dort alles in die Tasche, was ihm in die Finger kam. Also kaufte ich Speicherbausteine, Grafikkarten und solches Zeug immer bei ihm. Und da er damals wie heute Geldsorgen hatte, kam ihm das meist ganz gelegen.

Auf jeden Fall hatte Holly an jenem Tag überhaupt nicht damit gerechnet, mich an unserem Treffpunkt zu sehen. „Ich hin doch jede Woche hier“, pflaumte ich ihn an. Holly fand natürlich wieder irgendeine Ausrede, als ich auf die Medien zu sprechen kam. Er erzählte mir, dass er die Medien besorgt hätte, sie aber bei Erik lägen.

Wenn er nicht arbeiten musste, gammelte Holly immer bei Erik herum. Erik hatte damals die Splendid, unser Worldheadquarter, wo er Coop, also Co-Systemoperator war. Er sorgte dafür, dass die Leute die neuesten Warez in das System brachten und bestrafte sie mit einem Kick, wenn das Zeug älter als einen Tag war. Die Splendid hatte einen guten Namen, sie war ein verdammt schnelles Board.

Weil ich gerade jetzt die DVDs gut gebrauchen konnte, entschloss ich mich zu Erik zu fahren. Wie ich mir hätte denken können, war der natürlich nicht da. Seine Eltern machten mir auf und erklärten, dass Erik noch auf der Arbeit sei. Ich glaube, er jobbte damals als Aushilfe in einem Büro. Wenn Erik nicht da war, durfte niemand außer Holly sein Zimmer im Keller betreten. Nicht, dass ihm seine Privatsphäre so heilig gewesen wäre. Es war die Splendid, die er wie seinen Augapfel hütete. Mir blieb also nichts anderes übrig, als mich ein wenig ins Wohnzimmer zu setzen, mich mit Eriks Mutter zu unterhalten und zu warten.

Eriks Vater

Ich hab keine Ahnung von diesem ganzen Computerkram. Bis heute nicht. Das hat mich auch nie interessiert. Erik, mein Sohn, hat immer Freunde mitgebracht, und die saßen dann stundenlang zusammen in unserem Keller vor seinem Computer. Der Computer war mit der Telefonbuchse verbunden und man konnte damit irgendwelche Sachen machen, die ich bis heute nicht begriffen habe. Nebenbei jobbte Erik als Aushilfe in einem Büro und machte oft Überstunden. Als Gabriel am besagten lag vorbeikam, war Erik auf der Arbeit. Ich kannte Gabriel recht gut. Er war schließlich wie Holly fast jeden lag bei uns. Also wartete er bei meiner Frau im Wohnzimmer auf Erik.

Dann klingelte es an der Tür und ich öffnete. Zwei Beamte, ein uniformierter und einer in Zivil, standen vor mir. Im Hintergrund konnte ich weitere Polizisten erkennen, die ums Haus schlichen. Obwohl Erik mir versichert hatte, dass die Aktivitäten in seinem Zimmer absolut legal seien, harte ich befürchtet, dass eines Tages so etwas passieren würde. Die Sache mit der Telefonbuchse und dem Computer kam mir schon immer merkwürdig vor. Einer der Polizisten gab mir ein Blatt Papier, das ich nervös überflog. Nachdem ich verstanden hatte, worum es ging, nagte mich einer der beiden Beamten, wo denn das Zimmer meines Sohnes sei. Natürlich habe ich es ihnen gezeigt und bin dann gleich mit dem Durchsuchungsbefehl zu Gabriel und meiner Frau ins Wohnzimmer gegangen.

Gabriel

Plötzlich kam Eriks Vater ins Wohnzimmer und hielt mir ein Stück Papier unter die Nase. „Sag mal was dazu“, forderte er mich auf. Ich überflog den Zettel, und obwohl ich vorher noch nie so etwas gesehen hatte, war es eindeutig: Das war ein Hausdurchsuchungsbefehl. „Was soll ich dazu sagen“, antwortete ich. Da standen auch schon zwei Kerle in Uniform im Wohnzimmer und wollten wissen, wo der Schlüssel zu Eriks Zimmer sei.

Nun, man kann sich vorstellen, was für ein Theater die gemacht haben, um diese Tür aufzubekommen. Das war eine richtig massive Feuerschutztür. Da lief nichts von wegen aufbrechen oder so. Dann kam noch ein Typ, ich glaube vom Schlüsseldienst. Der fuchtelte die ganze Zeit erfolglos an dem Schloss herum.

Ich konnte da auf- und abmarschieren, ohne dass sich jemand um mich gekümmert hätte. Irgendwann fragte mich ein Polizist, ob ich nicht auch etwas mit der Sache zu mit hätte. Diese Pfeife. Als ob ich ihm das auf die Nase binden würde. Ich habe ihm erzählt, dass ich keine Ahnung von dem hätte, was Erik so treibt. Das reichte dem Typen.

Die Tür beschäftigte die Jungs eine ganze Weile. Ich musste nachdenken, mir schnell etwas einfallen lassen. Wenn die in Eriks Zimmer kämen, könnten sie den Rechner und Tonnen von Warez sicherstellen. Ich wusste auch, dass Erik komplette Adressen und Telefonnummern der Mitglieder seines Systems im Rechner gespeichert hatte. Alle wären aufgeflogen und hätten Probleme bekommen. Aber noch waren die Polizisten ja nicht in Eriks Zimmer.

Zuerst kam mir die Idee, einen Herzanfall oder etwas in der Art vorzutäuschen. Ich hätte das auch durchgezogen, wenn mir nicht kurz darauf etwas Besseres eingefallen wäre. So bin ich also kurzentschlossen zum Nachbarn gegangen, um zu telefonieren. Ich erinnere mich gut daran, weil der Typ für den Anruf doch Geld haben wollte.

Der Nachbar

Sehr geehrte Damen und Herren,
ich habe wirklich keinen blassen Schimmer, was Sie von mir wollen. Ich kenne keinen Gabriel S. und kann mich an den besagten Tag ohnehin nicht mehr erinnern.
Mit freundlichen Grüßen,
Der Nachbar

Gabriel

Ich habe dem bescheuerten Nachbarn die Münzen in die Hand gedrückt und Holly im Laden angerufen. Der wollte wissen, ob ich die DVDs endlich hätte und zufrieden sei. „Vergiss die Disketten!“, sagte ich. „Die Bullen sind hier!“ Holly har erstmal gar nichts kapiert. Ich musste ihm die Geschichte zwei-, dreimal erzählen, bis er überhaupt begriff, was ich von ihm wollte. Der Nachbar stand daneben und zählte die Einheiten; der ist mir vielleicht auf den Keks gegangen.

Holly

Ich sprach gerade mit meinem Chef, als ich von einem Kollegen ans Telefon gerufen wurde. Gabriel war dran, und ich dachte, der will mich wieder wegen der Medien nerven. Ich sollte ihm zweihundert DVDs besorgen, was ich auch gemacht habe. Immer wenn bei mir auf der Arbeit DVDs herumlagen, habe ich die eingesammelt, aber das dauerte nun mal eine Weile. Als ich die zweihundert DVDs zusammen hatte, habe ich sie bei Erik deponiert. Zuerst dachte ich, dass Gabriel jetzt wegen dieser blöden DVDs meckert. Doch der hat mir irgendwas von einer Hausdurchsuchung erzählt und dass ich die Splendid deleten soll. Moment, Moment, dachte ich. Der will mich total verarschen. Wieso sollte ich die Splendid deleten: Erik würde mich umbringen. Aber als sich Gabriel beruhigt hatte, konnte ich ihn besser verstehen und alles war klar.

Ich hab den Programmierer bei uns auf der Arbeit von seinem Rechner verscheucht und mich sofort in die Splendid eingeloggt. Mein Chef hat mich vielleicht angeguckt. Ich tippte wie wild drauflos. Vor lauter Aufregung gab ich mein Passwort mehrmals falsch ein. Das war vielleicht ein Stress. Obwohl ich helfender Systemoperator war, konnte ich Eriks Festplatte nicht von außen formatieren. Ich konnte nur auf das System zugreifen. Wenn ich im Nachhinein darüber nachdenke, blutet mir immer noch das Herz. Die Splendid war eine Rakete. Jeder in der Szene kannte sie. Bei jedem Stocken der Datenübertragung dachte ich, dass die Polizei am anderen Ende der Leitung jetzt endgültig den Stecker aus der Wand gezogen hatte und dabei war, den Rechner abzubauen. Aber irgendwie schaffte ich es rechtzeitig, alle Warez auf dem Board zu löschen und mich säuberlich wieder auszuloggen.

Gabriel

Ich bin dann schnell wieder in den Keller gelaufen und bekam gerade noch mit, wie die Männchen in Eriks Zimmer einmarschierten. Der Schlüsseldiensttyp musste die Tür wohl doch noch aufbekommen haben. Mir war ziemlich mulmig zumute. Ich war mir nicht sicher, ob Holly es auf die Schnelle geschafft harte, die Splendid zu killen. Als sie drinnen waren, schauten sich die Polizisten erst einmal in aller Ruhe um. Ich stand die ganze Zeit daneben und habe zugeguckt, ohne dass das jemanden interessiert hätte. Die konnten natürlich nicht ahnen, dass ich versucht hatte, ihnen die Tour zu vermasseln, und dass der Rechner als Beweismittel vielleicht schon völlig unbrauchbar war. Aber dann kam das Beste: Ein Polizist in Zivil stellte sich mitten in den Raum, blickte in die Runde, hob eine Diskette in die Luft und sagte …

Ein Polizist in Zivil

Danach suchen wir? Kann schon sein, dass ich das gesagt habe. Ich kann mich nicht mehr an den genauen Wortlaut erinnern. Irgendwie konnte ich mit der Situation nichts anfangen. Ich hatte weder Ahnung davon, was Disketten waren, noch wie man die Dinger überhaupt in den Computer bekommt. Nachdem wir endlich in das Zimmer konnten, schauten meine Kollegen und ich uns erst einmal um. In dem Raum stand soviel Elektronik, ich war mir nicht sicher, was wir davon beschlagnahmen sollten. Ich erinnere mich an meine Befehle, die eindeutig waren: Nach Disketten und einem Computer suchen.

Den Computer hatten wir schnell gefunden. Ich streckte also noch eins von den viereckigen Plastik-Dingern in die Höhe und sagte so etwas wie: „Danach suchen wir, Kollegen“ Was ist daran jetzt so witzig?

Gabriel

Ich musste mich zusammenreißen, um nicht laut drauflos zu lachen. Ich meine, die Dinger waren doch schon ziemlich out, oder? Nur Erik hatte noch massenweise fünfeinviertel-Zoll Disketten. Na ja, die haben die dann alle mitgenommen. Im Schrank waren noch ungefähr sieben- oder achthundert DVDs randvoll mit Warez. Die haben die einfach liegengelassen, weil danach schließlich nicht gesucht wurde. Und oben im Gästezimmer stand noch mein Super Nintendo mit Tausenden von kopierten Spielen. Ich glaube, die haben sich das Ding angeguckt, waren aber mit soviel „Hightech“ einfach überfordert. Die DVDs, die Holly mir mitgebracht hatte, haben sie auch nicht mitgenommen. Eriks Zimmer sah nach diesem Überfall aus wie ein Schlachtfeld. Die sind nicht grade zimperlich mit den Sachen umgegangen. Erik kam irgendwann von der Arbeit zurück und war natürlich total fix und alle, als er das sah.

Erik

Ich kam von einem beschissenen Tag nach Hause. Mein Chef hatte mich echt Tüten kleben lassen und meine dämliche Karre hatte auf der Hälfte des Weges einen Platten. Wirklich, das war wie im Film. Ich kam ins Haus und war geladen wie ein Hochspannungsmast. Und dann warteten da meine Eltern und machten einen Stress, den man sich nicht vorstellen kann. Gabriel stand daneben und grinste mich die ganze Zeit an. Die Bullen hatten wirklich alles mitgenommen; alles, außer den Sachen, die wichtig waren.
Wir haben uns schlappgelacht, als ich die beschlagnahmten Disketten zurückbekam. Die Bullen hatten die Beweise selbst zerstört, saubere Arbeit. Weil sie nicht wussten, was sie mit den Disketten anstellen sollten, haben sie die Dinger einfach gelocht und in ihren Aktenordnern abgeheftet. Es war echt zum Schießen. Trotzdem musste ich massig Anwaltskosten zahlen. Natürlich hatte ich an der Kohle zu knabbern. Es hätte aber schlimmer kommen können. Ich kann froh sein, dass Gabriel und Holly das Ding durchgezogen haben. Im Computer war nichts Brauchbares mehr. Meine Eltern haben mich noch ein wenig genervt, doch das flaute nach einigen Wochen wieder ab. Was aus der Splendid geworden ist? Na, was wohl? Die lief nach einem Monat wieder wie eine alte Dampflok. Scene forever …!

Denis Moschitto, William Sen

von Denis Moschitto und William Sen
Buchautoren von Hackerland & Hackertales

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Denis Moschitto und William Sen, Autoren der beiden Bücher Hackerland (erschienen 1999) und Hackertales (erschienen 2001), waren beide Mitglieder der sogenannten Release-Szene im Alter von 13 und 15 Jahren. Während Hackerland erstmals die Strukturen der Release-Szene aufdeckte, verfassten die beiden Autoren die Legenden und Mythen aus dieser Zeit in ihrem Werk Hackertales.

Beide Bücher sind in ihrer aktuelle Ausgabe kostenlos online verfügbar.



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