NO COPY

von Jan Krömer und William Sen
Buchautoren und Journalisten

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Auch wenn bereits zuvor Überlegungen existierten, in denen die Bedeutung von Informationen für die Gesellschaft herausgestellt wurde (zum Beispiel 1948 in Norbert Wieners Werk „Cybernetics or Control and Communication in the Animal and the Machine“[1]), entstanden erste konkrete Konzepte einer Informationsgesellschaft in den 60er Jahren.

Der japanische Anthropologe Tadao Umesao beschreibt 1963 einen soziologischen Wandel der Gesellschaft und sieht eine Informationsgesellschaft als letzte Stufe des Wandels nach der Agrikultur- und Industriegesellschaft.[2] Bereits 1962 stellt Fritz Machlup in seinem Buch „The Production and Distribution of Knowledge in the Unites States“ fest, dass neben den traditionellen Wirtschaftssektoren die Informationsindustrie eine wichtige Rolle eingenommen hat, und versuchte mit statistischen Methoden den wirtschaftlichen Einfluss von Informationen zu bestimmen.[3] Daniel Bell benutzt in seinem 1973 erschienenen Buch „Die nachindustrielle Gesellschaft“ den Begriff „postindustrielle Gesellschaft“ und teilt diesen in fünf Komponenten auf:[4]

  • Wirtschaftlich ist die nachindustrielle Gesellschaft für Bell gekennzeichnet durch die Entwicklung von einer güterproduzierenden Gesellschaft zu einer Dienstleistungsgesellschaft: „Nach diesem Kriterium ist das erste und einfachste Merkmal der nachindustriellen Gesellschaft also darin zu sehen, dass die Arbeitskräfte nicht mehr überwiegend in der Landwirtschaft und industriellen Produktion, sondern im Dienstleistungsgewerbe tätig sind“.[5]
  • Das zweite Merkmal einer nachindustriellen Gesellschaft ist laut Bell ein Wandel in der Berufsstruktur. Er sieht einen Anstieg des Bedarfs an Berufen, die eine akademische und technische Qualifizierung, in der Regel eine Hochschulausbildung, erfordern.[6]
  • Zum Dritten sieht Bell für die nachindustrielle Gesellschaft den steigenden Bedarf an theoretischem Wissen als kennzeichnend an, welches im neu entstehenden sozialen System benötigt wird, „um die Entscheidungen organisieren und den Wandel lenken zu können“.[7]
  • Die vierte Komponente ist die sorgfältige Planung der Technologie und des technischen Fortschritts. Da neue Technologien laut Bell die Basis für Wirtschaftswachstum sind, soll diese technische Zukunftsorientierung der Gesellschaft ermöglichen, den wirtschaftlichen Fortschritt in gewissem Maße selber zu bestimmen.[8]
  • Die fünfte Komponente der postindustriellen Gesellschaft ist für Bell die Schaffung einer neuen „intellektuellen Technologie“.[9] Gemeint ist der zielgerichtete Umgang mit komplexen Problemen, also eine bewusste Entscheidungsbildung. „Kennzeichnend für die neue intellektuelle Technologie ist das Bestreben, rationales Handeln zu definieren und festzustellen, mit welchen Mitteln es sich realisieren lässt“.[10]

Diese fünf Komponenten bestimmen laut Bell die postindustrielle Gesellschaft, die er als Informationsgesellschaft sieht: „War die Industriegesellschaft eine güterproduzierende, so ist die nachindustrielle Gesellschaft eine Informationsgesellschaft“.[11]

Im Jahre 1980 bezeichnet der Futurologe Alvin Toffler im Rahmen seiner Stadientheorie die Informationsgesellschaft als „Dritte Welle“ der Menschheitsgeschichte.[12] Die erste Welle, begonnen vor mehr als 10.000 Jahren, bezeichnet er als Agrargesellschaft, geprägt von dörflicher Gemeinschaft, Landarbeit und Handarbeit sowie wenig Mobilität.[13] Die zweite Welle, die im 17. Jahrhundert begann, ist für Toffler die Industriegesellschaft mit in Städten lebenden Menschen und zentralisierter Produktion.[14] Die aktuelle Gesellschaft, also die dritte Welle, ist nach Toffler die Informationsgesellschaft, gekennzeichnet durch Globalisierung, Individualisierung, und einen Rückgang der Beschäftigtenzahl im Produktionsbereich. Der Informationstechnik kommt eine entscheidende Rolle zu.[15]

Wersig sieht die bei Bell bereits anklingende Reduzierung von Komplexität als zentrale Aufgabe der Informationsgesellschaft an. Die Individualisierung der Menschen durch den Wegfall der Sicherheiten der Industriegesellschaft sowie ein starker Anstieg des Wissens über die Welt, haben laut Wersig zu Systemen und Vernetzungen geführt, die nicht mehr überschaubar seien, was wiederum ein Gefühl der Überforderung hervorrufe.[16] „‚Informationsgesellschaft‘ ist die Gesellschaft, auf die wir uns zubewegen müssen, in der die existierende Komplexität, die an vielen Stellen überfordert, durch geeignete, d. h. die Errungenschaften der Moderne nicht zurückführende, Hilfsmittel reduziert wird“.[17]

Eine andere Erklärung der Informationsgesellschaft versucht Nefiodow. Er führt dabei Kondratjews Theorie der „langen Wellen“ weiter, der auf das Vorhandensein von etwa 48 bis 60 Jahre dauernden Konjunkturzyklen hingewiesen hatte.[18] Nach Nefiodow werden die Wellen wirtschaftlichen Aufschwungs jeweils von technischen Neuentwicklungen, sogenannten Basisinnovationen, getragen, die wiederum eine Reihe von Nachfolgeinnovationen nach sich ziehen. Als Beispiel für solche Basisinnovationen nennt er die Dampfmaschine, die Eisenbahn, die Elektrifizierung und das Automobil. „Jede dieser Erfindungen hat eine lange Periode der Prosperität ausgelöst und zu einer weitreichenden Umorganisation der Gesellschaft geführt“.[19] Ist das Nutzungspotential einer solchen Innovation aber erschöpft, folgt dem Aufschwung eine Phase der Rezession bis zur Entstehung einer neuen Basisinnovation. Die erste lange Welle erstreckte sich nach Nefiodow vom Ausgang des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, markierte den Startpunkt der industriellen Revolution und wurde von der Dampfmaschine als Basisinnovation getragen.[20] Die Basisinnovation des „zweiten Kondratjew“ von Mitte bis Ende des 19. Jahrhunderts war die Eisenbahn.[21] Die dritte Welle begann Anfang des 20. Jahrhunderts und dauerte bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Ihre Basisinnovationen waren die Chemie und die Elektrizität.[22] Die vierte Kondratjew-Welle, die nach dem Zweiten Weltkrieg begann und Mitte der 70er Jahre ihren Höhepunkt erreichte, wurde vor allem durch grundlegende Weiterentwicklungen bereits vorhandener Innovationen getragen. „Sie beruhte maßgeblich auf der Petrochemie und ihrer Nutzung in bereits bekannten Innovationen: Auto, Flugzeug, Schiffen, Kunststoffen. Neu war eigentlich nur das Fernsehen“.[23] Nefiodow sieht auch eine fünfte Kondratjew-Welle, die bereits wirksam sei. „Sie wird vom Innovationspotential der Ressource Information getragen, und sie wird die endgültige Etablierung der Informationsgesellschaft mit sich bringen“.[24] Die wichtigste Bassinovation ist laut Nefiodow die Informationstechnik. Sie durchdringe alle Bereiche der Gesellschaft und sei der Antrieb wirtschaftlichen Aufschwungs.

Kondratjew Wellen

Abbildung: Die fünf Kondratjew-Wellen nach Nefiodow[25]

Für Stock sind zusätzlich zu Nefiodows Theorie des „fünften Kondratieff“ weitere Punkte kennzeichnend für die Informationsgesellschaft: [26]

Zum einen das Holographie- und das Tempoprinzip, also die Tatsache, dass Informationen an jedem beliebigen Ort und quasi ohne Zeitverlust verfügbar sind.

Weiterhin die Theorie der Wissensgesellschaft, also der Gedanke, dass wissenschaftliches Wissen die Basis für Innovationen und wirtschaftliches Handeln ist.

Zum anderen der Einsatz von telematischen (d. h. informations- und kommunikationstechnischen) Geräten und Verfahren wie Computer, Software, Netzwerke. „Die Informationsgesellschaft kommt nur dann zustande, wenn diese telematische Revolution –  zumindest bei einer kritischen Masse, d. h. bei einer genügend großen Anzahl der Gesellschaftsmitglieder – stattfindet“.[27]

Stock verbindet somit verschiedene Sichtweisen zu einer differenzierten Definition des Begriffs „Informationsgesellschaft“. Danach bezeichnet „Informationsgesellschaft“ eine Gesellschaft,

  • „deren Basisinnovationen von der Ressource Information getragen werden (Theorie des fünften Kondratieff),
  • in der Informationsinhalte aller Arten überall und jederzeit zur Gänze zur Verfügung stehen (Holographie- und Tempo-Prinzip) und auch intensiv genutzt werden (Theorie der Wissensgesellschaft),
  • deren Mitglieder bevorzugt Telematikgeräte zur Kommunikation benutzen (Theorie der telematischen Revolution).“[28]

Geht man davon aus, dass auch Raubkopien Informationsinhalte im Sinne von Stocks Definition darstellen, steht der Begriff der Informationsgesellschaft in direkter Verbindung mit der Nutzung von Raubkopien. Falls nun der Konjunkturzyklus des Informationszeitalters seinen Höhepunkt noch nicht erreicht hat, hätten Raubkopien somit auch einen Einfluss auf den wirtschaftlichen Aufschwung. Daher wird im späteren Verlauf dieser Arbeit auch untersucht werden, inwieweit die Raubkopierer Einfluss auf die bestehenden wirtschaftlichen Strukturen haben.

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von Jan Krömer und William Sen
Buchautoren und Journalisten

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Jan Krömer und Dr. William Sen sind u. a. Autoren des Buchs "NO COPY - Die Welt der digitalen Raubkopie" - erschienen im Klett-Cotta Verlag. Das Buch sorgte vor allem in Deutschland für Aufklärung für das Verständnis für Raubkopien und untersuchte kritisch das gesellschaftliche und auch ökonomische Grundverständnis für "die Kopie".

Das Buch NO COPY ist kostenlos online verfügbar.

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1. Einleitung
1.1. Einleitung
1.2. Zielsetzung
1.3. Abgrenzung
1.4. Aufbau


2. Begriffsdefinitionen
2.1. Netzkultur
2.2. Hacker
2.3. Hackerkultur
2.4. Informationsgesellschaft
2.5. Raubkopie


3. Hacker und Raubkopierer in der Informationsgesellschaft
3.1. Informationsgesellschaft
3.1.1. Geschichte der Informationsgesellschaft
3.1.2. Bedeutung der Informationsgesellschaft
3.1.3. Information als Wirtschaftsgut
3.2. Strukturen der Erstellung und Verbreitung von Raubkopien


4. Typen von Raubkopierern
4.1. Release-Szene
4.2. FXP-Szene
4.3. Filesharing-Nutzer


5. Verbreitungswege der Raubkopien
5.1. Warez
5.2. MP3z
5.3. Moviez
5.4. eBookz


6. Bild der Raubkopierer in der Öffentlichkeit
6.1. Raubkopierer in den Medien
6.2. Schadenszahlen in der Öffentlichkeit


7. Formulierung der Thesen
7.1. These A: Die heutige Informationsgesellschaft ist von der Hackerkultur geprägt.
7.2. These B: Raubkopien sind das Produkt einer von der Hackerkultur geprägten Gesellschaft.
7.3. These C: Raubkopierer handeln destruktiv.
7.4. These D: Raubkopierer betrachten Raubkopieren nicht als kriminelles Vergehen.


8. Entstehung der Hacker
8.1. Die ersten Hacker (ab 1955)
8.2. Faszination der Software (1960 – 1975)
8.3. Entstehung der Hackerkultur (1975 – 1980)
8.4. Erste Gruppierungen von Hackern
8.5. Kommerzialisierung der Hardware
8.6. Kommerzialisierung der Software


9. Entstehung der Raubkopierer-Szene
9.1. Entstehung der ersten Cracker (1982 – 1999)
9.2. Die erste Generation
9.3. Cracking Groups
9.4. Qualität der gecrackten Software
9.5. Mitgliederzahl der ersten organisierten Raubkopierer-Szene
9.6. Verbreitung der Raubkopien
9.7. Entwicklung der 2. Generation


10. Elemente der Netzkultur
10.1. Die Idee des Teilens von Software
10.2. Freie-Software-Bewegung
10.3. Open-Source-Bewegung


11. Selbstregulierung statt Kontrolle
11.1. Internet als dezentrales u. freies Netzwerk
11.2. Selbstregulierende Projekte im Internet
11.2.1. Wiki-Konzept und Wikipedia
11.2.2. Open Source Directory Project (ODP) und Weblogs


12. Hacker-Ethik
12.1. Feindbilder der Hacker
12.2. Feindbild IBM
12.3. Feindbild Post


13. Konstruktive Destruktion
13.1. Demontage
13.2. Verbesserung
13.3. Kreation


14. Fazit Netzkultur


15. Verhaltenspsychologische Aspekte
15.1. Motivationsfaktoren der organisierten Raubkopierer-Szene
15.2. Motivationsfaktoren der Gelegenheitskopierer


16. Zusammenfassende Bewertung der Thesen
16.1. These A
16.2. These B
16.3. These C
16.4. These D


17. Optionen der Rechteinhaber für einen wirksameren Umgang mit Raubkopierern
17.1. Juristische Mittel
17.2. Kopierschutzmaßnahmen
17.3. Illegale Download-Angebote
17.4. Öffentlichkeitsarbeit
17.5. Resümee


18. Fazit
Literaturverzeichnis
Tabellenverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Danksagung


Quellen:

[1] Vgl. Wiener 1965.
[2] Vgl. Kübler 2005, S. 59.
[3] Vgl. Webster 1994, S. 5.
[4] Vgl. Bell 1985, S. 32.
[5] Bell 1985, S. 32.
[6] Ebd., S. 35.
[7] Ebd., S. 36.
[8] Ebd., S. 42.
[9] Ebd., S. 43.
[10] Ebd., S. 46.
[11] Ebd., S. 353.
[12] Vgl. Toffler 1987.
[13] Vgl. Ebd., S. 20 ff.
[14] Vgl. Ebd., S. 32 ff.
[15] Vgl. Ebd., S. 144 ff.
[16] Wersig 1996, S. 11.
[17] Ebd., S. 14.
[18] Vgl. Nefiodow 1990, S. 25.
[19] Nefiodow 1990, S. 23.
[20] Vgl. Nefiodow 1990, S. 27.
[21] Ebd., S. 28.
[22] Ebd., S. 29.
[23] Nefiodow 1990, S. 30.
[24] Ebd., S. 35.
[25] Nefiodow 1990, S. 27.
[26] Vgl. Stock 2000, S. 4 f.
[27] Stock 2000., S. 6.
[28] Ebd., S. 6 f.